Was die Demenz-Community von der mächtigen Tierschutz-Lobby lernen kann!

Stellen Sie sich folgendes Gesetz vor:
§1 Allgemeine Anforderungen

Einem Mensch mit Demenz ist:

  • ausreichend Bewegung im Freien außerhalb des Pflegeheims zu gewähren (mind. 2 x täglich, insgesamt 1 Stunde),
  • mehrmals täglich – in ausreichender Dauer – Umgang mit den Personen die ihn betreuen (Betreuungsperson) zu gewähren und
  • regelmäßig der Kontakt zu anderen Menschen zu ermöglichen, es sei denn, dies ist im Einzelfall aus gesundheitlichen Gründen oder aus Gründen der Unverträglichkeit zum Schutz des Betroffenen oder seiner Mitbewohner nicht möglich.

Wer mehrere Menschen mit Demenz pflegt oder betreut hat sie wenn möglich in der Gruppe zu betreuen.  Die Gruppenbetreuung ist so zu gestalten, dass: für jeden zu Pflegenden der Gruppe a) ein Ruheplatz zur Verfügung steht und b) individuelle Mahlzeiten  sowie eine individuelle gesundheitliche Versorgung möglich sind.

Anmerkung: Soziales Miteinander ist entscheidend für ein normales Sozialverhalten gegenüber dem Pflege- und Betreuungspersonal und anderen Mitbewohnern. Daher sollte möglichst häufiger und vielfältiger Kontakt bestehen. Unterschiedliche Umweltreize sollten stattfinden. Reizarm betreute Menschen mit Demenz, die keine Erfahrungen mehr mit anderen Menschen und der Umwelt sammeln können, leiden häufig den Rest ihres Lebens unter Verhaltensstörungen, die u.a. auch zu schwierigen Verhaltensweisen führen können. Durch das Fehlen von Interaktionen können sich zudem Deprivationserscheinungen bis hin zum Deprivationssyndrom entwickeln, bei dem die Kommunikationsfähigkeit mit der Umwelt irreversibel eingeschränkt ist. Eine erfolgreiches Sozialverhalten ist nur durch regelmäßigen und länger dauernden Umgang einer Betreuungsperson mit den Pflegebedürftigen und den einhergehenden olfaktorischen, taktilen, akustischen und optischen Reizen zu erreichen. Unter Umgang sind daher die Tätigkeiten der Betreuungsperson zu verstehen, die den Menschen mit Demenz diese Reize vermitteln. Dazu zählen insbesondere Berührungen, Ansprache und Spiel sowie die Versorgung, Pflege und Gesundheitsvorsorge. Pflegefachlich wird eine Mindestzeit von vier Stunden pro Tag für den Umgang einer Betreuungsperson mit den Betroffenen als erforderlich angesehen. 

§2 Anforderungen an Räume
  • Ein Demenzerkrankter darf nur in Räumen betreut und gepflegt werden wenn der freie Blick aus dem Gebäude heraus gewährleistet ist.
  • Ein Mensch mit Demenz darf nur in Räumen gepflegt oder betreut werden, bei denen der Einfall von natürlichem Tageslicht sichergestellt ist. Bei geringem Tageslichteinfall sind die Räume entsprechend dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus zusätzlich fachgerecht zu beleuchten. In den Räumen muss eine ausreichende Frischluftversorgung sichergestellt sein.
§3 Ernährung und Pflege
  • Die Betreuungs- und Pflegeperson hat dafür zu sorgen, dass dem Pflegebedürftigen in seinem gewöhnlichen Aufenthaltsbereich jederzeit Getränke in ausreichender Menge und Qualität zur Verfügung stehen. Sie haben den Mensch mit Demenz mit gesunden und ausgewogenen Mahlzeiten in ausreichender Menge und Qualität zu versorgen.
Die Betreuungsperson hat:
  • den zu Pflegenden unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und des Bedarfs regelmäßig zu pflegen und für seine Gesundheit Sorge zu tragen;
  • die Unterbringung mindestens zweimal täglich zu überprüfen und Mängel unverzüglich abzustellen;
  • für ausreichende Frischluft und angemessene Lufttemperaturen zu sorgen.

 

Alle die, die für die Rechte und die Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen eintreten, wären sicher begeistert und würden solch ein Gesetz als Meilenstein feiern. Einen Rechtsanspruch auf mindestens zweimal täglich raus an die frische Luft,  ausreichende persönliche Zuwendung, Berührungen, passgenaue und individuelle Betreuungsangebote, genügend Tageslicht, Blick nach draußen, ausgewogene Ernährung nach den persönlichen Vorlieben und noch viel mehr. Und dann noch per Rechtsanspruch. Perfekt.

Träumerei? Bei weitem nicht. Nur leider liegen uns Hunde offenbar mehr am Herzen als alte und pflegebedürftige Menschen. Das Gesetz, dass Sie oben gerade gelesen haben, ist im Kern die neue Tierschutz-Hundeverordnung, die Anfang 2022 in Kraft getreten ist. Und zwar ziemlich genau im Wortlaut. u.a. wurden die Formulierungen Hund und Welpen durch Menschen mit Demenz ersetzt und das Wort Auslauf fand ich dann auch irgendwie unpassend.

https://www.gesetze-im-internet.de/tierschhuv/BJNR083800001.html

Dort wird jetzt genau geregelt, dass Besitzer von Hunden ihren Tieren 2x täglich mindestens 1 Stunde Auslauf gewähren müssen oder sich der Halter 4 Stunden täglich um Welpen kümmern muss. Nicht dass ich das falsch finde. Aber vielleicht fragt sich ja die Eine oder der Andere von Ihnen warum es solch gesetzliche Regelungen nicht auch für Pflegeheimbewohner gibt. 2x täglich für eine Stunde an die frische Luft? Ein garantierter Ausblick in die Welt? Zeitlich selbstbestimmte Mahlzeiten mit ausgewogener Ernährung nach dem persönlichen Geschmack? 4 Stunden persönliche Ansprache und individuelle Betreuung?  In den meisten Pflegeheimen wohl eher reine Utopie.  1 Stunde wäre ja schon der Hit!

Bewundernswert finden ich hier wirklich die Arbeit der Tierschutzlobby. Wäre es nicht super, wenn wir – also die vielen professionellen Mitarbeiter an Demenz-Beratungs- und Fachstellen und die vielen ehrenamtlich Engagierten in den Alzheimer Gesellschaften und/oder Seniorenorganisationen etwas nur annährend Ähnliches hinbekommen. Aber scheinbar ist es für Politik wesentlich bedeutender und lohnender, dem Tierschutz zuzuhören als sich dem Schutz und dem Wohlbefinden von pflegebedürftigen Menschen zu widmen. ….oder ist einfach nur die Interessenvertretung viel lauter? Aber das wäre letztendlich ja auch aufschlussreich und sollte uns noch mehr motivieren für die Rechte von Menschen mit Demenz einzutreten.

Ich will im Falle einer Pflegebedürftigkeit auf alle Fälle  nicht weniger Rechte als ein Hund haben!

Nachtrag Studie:

Die beiden Soziologen Jack Levin und Arnold Arluke von der Northeastern Univrsity Boston hatten 240 Studierende zu einem Experiment eingeladen. Jeder Proband erhielt einen fiktiven Zeitungsartikel, in dem entweder von der Misshandlung eines Welpen, eines ausgewachsenen Hundes, eines Kleinkindes oder eines Erwachsenen berichtet wurde. Der beschriebene Vorgang war jedes Mal gleich, nur das jeweilige Opfer wurde ausgetauscht. Nachdem die Studierenden den Text gelesen hatten, sollten sie aus einer Liste mit 16 Emotionen diejenigen auswählen, die den eigenen Gefühlen beim Lesen am nächsten gekommen waren. Sie konnten also beispielsweise angeben, ob sie „irritiert“, „bewegt“, „geschockt“, „mitleidig“ oder „verletzt“ waren – und wie stark diese Empfindung jeweils war.

Das erste Ergebnis war wenig überraschend: Kleinkinder und Welpen riefen am meisten Mitleid hervor. Erstaunlicher aber war, dass ausgewachsene Hunde mehr Mitgefühl bei den Studierenden hervorriefen als Erwachsene. „Das spricht dafür, dass an dem populären Vorurteil, dass wir uns mehr um das Wohlergehen der Tiere als um das der Menschen sorgen, zumindest teilweise etwas dran ist“, kommentieren die Wissenschaftler. Zumindest im Falle einer Misshandlung, wie in diesem fiktiven Beispiel, komme der erwachsene Mensch mit Abstand als Letztes.  https://brill.com/view/journals/soan/25/1/article-p1_1.xml